Wie einst König Ludwig

Mit der Kutsche zu den Königsschlössern

19. Dezember 2023

Märchenkulisse. Ganz großes Kino! Frau Holle hat am Vortag kräftig ihre Bettdecken vom Himmel ausgeschüttelt und heute verwandelt die Sonne die schneebedeckte Landschaft in ein Zauberland. Zwischen den weißen Bergen ist die Magie von Schloss Neuschwanstein besonders spürbar. Mehr Romantik geht nicht. Selbst wer hier in der Region Füssen daheim ist und das Schloss der Schlösser schon in den unterschiedlichsten Stimmungen gesehen hat, kann sich diesem Zauber nicht entziehen.

Und automatisch geht das Kopfkino los: Wie sah es wohl hier aus, wenn im 19. Jahrhundert die Königsfamilie anreiste, um sich vom Münchner Hofleben zu erholen? Während Schloss Hohenschwangau für König Maximilian II. und seine Gemahlin Königin Marie eine Sommerresidenz war, verbrachte Ludwig, der erstgeborene Sohn und spätere König von Bayern, gerne auch einen Teil des Winters dort. So konnte er während seiner Aufenthalte die Stille der Landschaft genießen und gleichzeitig die Baufortschritte von Schloss Neuschwanstein im Auge behalten.

Anreisen konnte Ludwig damals nur mit der Kutsche. Eine Tagesreise von München war das und eine ziemliche Anstrengung, weiß Heinrich Vogtmann zu berichten, der heute als einer von drei Kutschbetreibern die Genehmigung hat, Besucher mit seinen Pferdegespannen zum Schloss hinauf zu bringen. Ein weiteres Kutschunternehmen fährt zum Schloss Hohenschwangau. „Früher hat es ja nichts anderes gegeben. Die Pferde mussten nach 20 Kilometern an einer Poststation gewechselt werden, um weiter fahren zu können. Ein langer Weg für den König.“

Und ein bisschen ist es an manchen Wintertagen immer noch wie zu Ludwigs Zeiten. Wenn die Shuttlebusse wegen zu viel Schneemassen oben nicht wenden können und deshalb nicht hochfahren dürfen, bleiben nur zwei Optionen, um Neuschwanstein aus nächster Nähe zu betrachten oder das prachtvolle Schlossinnere zu besuchen: Eine gute halbe Stunde nach oben zu laufen oder eben in eine der Kutschen zu steigen. 15 Minuten dauert die Fahrt von der „Haltestelle“ gegenüber vom Hotel Müller bis zum Wendeplatz am Schlossrestaurant Neuschwanstein, von dem es noch wenige Gehminuten zum Schlosstor sind.

Durch den Winterwald zu fahren, ist an solchen Tagen ein besonderes Erlebnis: Der Schnee dämpft jeden Laut, nur das leise Schnauben der Pferde ist zu hören. Alles andere scheint weit weg zu sein. Die Sonne zaubert magische Lichtstimmungen zwischen den Bäumen, schmilzt das Weiß und pudert Pferde, Kutsche und Fußgänger mit Eiskristallen. Mystisch!

Das findet auch Heinrich Vogtmann, der 30 Jahre lang an fünf Tagen die Woche zum Schloss gefahren ist und jetzt immer noch einspringt, wenn einer seiner Kutscher mal ausfällt. „Der König wusste halt, wo’s schön ist.“

Sein Opa hatte in den 1950er Jahren die Lizenz für die Kutschfahrten beantragt, der Tourismus am Schloss nahm aber erst in den 1970er Jahren so richtig Fahrt auf. „Später hat mein Vater den Betrieb übernommen. Ich selbst habe erst einmal eine Lehre als Kfz-Mechaniker gemacht, bevor ich mich dann für die Kutschen entschieden habe.“

Die Ausbildung hat ihm vor ein paar Jahren auch dabei geholfen, gemeinsam mit einem Ingenieur aus Halblech einen E-Motor für die Kutschen zu entwickeln, den mittlerweile alle Kutschbetriebe, die zum Schloss Neuschwanstein hochfahren, in ihren Gespannen eingebaut haben.

Fast ein Jahr hat es gedauert, bis allein das technische Konzept für die elektrische Unterstützung stand. „Wir wollten, dass die zwei Pferde vor der Kutsche, unabhängig von der Belastung durch das Gewicht der Fahrgäste und die Steigung der Strecke, zusammen nur 80 Kilogramm ziehen. Die Elektronik danach auszurichten, war herausfordernd und wir mussten ziemlich tüfteln. Zwar sind unsere Süddeutschen Kaltblüter Arbeitspferde, die früher zum Pflügen der Felder oder bei der Waldarbeit eingesetzt wurden, und können weit mehr als 80 Kilo ziehen. Aber wir wollten auf die Bedenken von Tierschützern reagieren.“

Vor dem Einsatz am Schloss wurden mit den nun elektrounterstützten Kutschen Testfahrten bergauf in Halblech gemacht und auch der TÜV war bei der Entwicklung dabei. Alle Kutschen müssen aus Sicherheitsgründen ohnehin jährlich geprüft werden.

Manch Schlossbesucher wundert sich vielleicht, warum auf dem Schild an der Kutschenrückseite der Ausdruck „Hybrid“ steht. Aufgrund der Kombination verschiedener Antriebstechniken wie hier aus Pferdekraft und E-Motor handelt es sich bei den Kutschen um ein sogenanntes Hybridfahrzeug.

Eine digitale Anzeige vor dem Kutschersitz zeigt die aktuelle Arbeitslast der Pferde sowie die Leistung und Ladung des E-Motors an. Beim Bergabfahren fungiert der Motor gleichzeitig als Generator und erzeugt Strom, mit dem sich die Batterie teilweise wieder auflädt. So reicht die Ladung für einen ganzen Tag. Über Nacht wird der Motor ans Netz gehängt. Die Entwicklung des elektronischen Kutschenmotors war 2018 eine Innovation. Danach gab es mehrere Anfragen von anderen Kutschbetrieben, auch aus den USA.

Die Pferde am Gespann werden oben am Wendeplatz mit Wasser versorgt und alle vier Stunden auswechselt. Dass ein Pferd mehr zieht als das andere, ist nicht möglich. „Durch die Spielwaage vorne kann keines der beiden Pferde seinem Partnerpferd das Gewicht „überlassen“. Trotzdem können wir nicht alle Pferde miteinander laufen lassen. Sie müssen gut harmonieren und den gleichen Schritt haben.“ Deshalb gibt es meist ein „Dreamteam“, so wie dieses Mutter-Tochter-Gespann.

Die jungen Pferde werden zuerst einige Zeit ohne Fahrgäste trainiert, bevor sie ihre erste offizielle Fahrt am Schloss haben. „Ich mache das sehr gerne mit den Pferden und es ist schön, wenn es den Gästen gefällt. Das Kutschieren ist sehr abwechslungsreich“, meint Heinricht Vogtmann. „Aber es ist auch viel Arbeit. Rund um den Kutschbetrieb gibt es viel zu tun. Die Pferde wollen gut versorgt sein und der Stall will ausgemistet werden. Man muss wirklich eine Liebe dazu haben“.

In seinem Betrieb in Schwangau-Horn hält Vogtmann 14 Pferde und züchtet auch. Früher hat er im Winter auch noch Pferdeschlitten für Hotelgäste gefahren. Nach so vielen Jahren auf dem Kutsch- bzw. Schlittenbock freut er sich jetzt darauf, in der Rente einfach mal so mit einem Pferdegespann spazieren zu fahren, so wie es König Ludwig II. einst auch gerne tat.

© Sammlung Jean Louis Schlim München

Seine nächtlichen Fahrten durch die winterliche Landschaft waren nicht nur für den König, sondern auch für die Bevölkerung mystisch. Der vergoldete und mit Putten geschmückte Pferdeschlitten war zwar nicht mit einem E-Motor ausgestattet, dafür aber vermutlich das erste elektrisch beleuchtete Fahrzeug der Welt. Aus der Krone des königlichen Schlittens strahlte eine Glühlampe und die Batterie war unter dem Sitzkissen in einem Kasten untergebracht, der zum Schutz vor Batteriesäure mit Bleiblech ausgeschlagen war.

Nach Einschätzung des Ludwig-Experten Jean Louis Schlim handelte es hierbei um eine besonders frühe, vermutlich singuläre Konstruktion einer Kohlenfadenglühbirne – noch weit vor der „offiziellen“ Erfindung der Glühbirne durch Thomas Edison 1879. Man muss sich das Bild vorstellen, wie der Bayernkönig mit seinem beleuchteten Fahrzeug nachts durch die neblige, winterliche Landschaft glitt: Der Schein des Lichts wird den Leuten geradezu überirdisch vorgekommen sein. Sie munkelten, der Monarch könne zaubern. Eine Erscheinung, die sicher mächtig Eindruck hinterlassen und mit dazu beigetragen hat, dass Ludwig II.  „Märchenkönig“ genannt wurde und bis heute wird.

In Sichtweite zu Ludwigs Märchenschloss stehen Biene und Maja, zwei der 16 Pferde des Kutschbetriebes der Familie Kotz, auf der Weide. Sie genießen von November bis März eine längere Winterpause von ihren Fahrten zum Schloss Hohenschwangau, denn die werden außer am Jahresende zwischen den Feiertagen im Winter nicht angeboten. Neben einigen Sonderfahrten wie dem Nikolausumzug oder dem Fest der Heiligen Luzia in der Adventszeit ziehen sie ab dem zweiten Weihnachtsfeiertag bei entsprechender Schneelage die Schlitten von Schwangau zur Wildtierfütterung am Bannwaldsee.

Damit ihr Winterfell nicht zu dick wird, kommen die Pferde bei Minusgranden abends in den warmen Stall. „Das ist wichtig, wenn wir dann Schlitten fahren oder die Saison am Schloss wieder losgeht. Sie können ja nicht wie wir die Winterjacke ausziehen, wenn sie beim Laufen schwitzen“, erklären die Brüder Tobias und Stefan Kotz, die beide in Vollzeit als Kutscher im Familienbetrieb arbeiten, den ihr Großvater aufgebaut hat.

Pferde gehören für die beiden Brüder und ihre Eltern Uschi und Otto Kotz zur Familie.  Der Stall ist direkt an das Wohnhaus angeschlossen. „Es gibt Pferde, die sind so alt wie meine Jungs. Die sind miteinander aufgewachsen. Für mich sind das alle meine Kinder“, erzählt Uschi Kotz. „Wir sind von der Geburt an dabei, weil wir auch selbst züchten. Da ist so ein großes Vertrauen da und wir wissen genau, wie das einzelne Pferd reagiert. Jedes hat seinen eigenen Charakter. Und umgekehrt erkennen sie uns alle am Schritt, an der Statur und am Geruch. Wenn ich nach Hause komme, freut sich auf jeden Fall immer einer“, meint die Kutscherin und lacht.

Für Tobias und Stefan Kotz, zwei von vier Brüdern, war schon früh klar, dass sie, um ganztags mit den Pferden zusammen zu sein, einmal in das elterliche Unternehmen einsteigen würden. Tobias (rechts) hat Zimmerer gelernt, Stefan hat eine Ausbildung als Pferdewirt absolviert. Beide konnten früher reiten als radfahren. Den Kutscherschein haben sie bereits mit 12 Jahren gemacht und durften dann in Begleitung von Erwachsenen ein Gespann lenken. „Wir sind tagein tagaus von klein auf mit den Rössern zusammen, sie sind unser Leben.“

Selbst außerhalb der Kutsch- und Schlittenfahrten sind sie gerne mit ihren „befellten Geschwistern“ zusammen. „Eher hobbymäßig machen wir mit ihnen Wald- und Feldarbeit. Das ist eine schöne Abwechslung für die Rösser und wir sind ganz unter uns.“ Auf die Frage, wie viel Prozent der Gespräche sich um die Pferde drehen, lachen die beiden und antworten: „Mindestens 98 Prozent!“ Und ihre Mutter ergänzt: „Ich bin echt froh, dass meine Jungs mit so viel Herzblut dabei sind und das so gerne machen.“

Die Pferde füttern, den Stall ausmisten, dem Hufschmied beim Beschlagen helfen – viele und täglich andere Aufgaben sind rund um den Kutschbetrieb zu tun. Sieben Kutschen und fünf Schlitten stehen in den Gebäuden ringsherum und müssen nach den Fahrten gereinigt werden.

In der ersten Etage ihres Wohnhauses lagern neben den Flokatitepppichen und Sitzkissen für die Kutschen auch einige ganz besondere Schätze: Die Geschirre für die Pferde, die aus vielen Einzelteilen wie Sattel, Zaumzeug, Riemenbeschläge, Schlaufen, Haken, Ösen und Faulenzern bestehen. Für verschiedene Anlässe und Einsatzzwecke gibt es auch unterschiedliche Geschirre: Für Umzüge und Hochzeiten wird zum Beispiel die festliche Stadtanspannung genommen. Manche der Stücke sind schon 200 Jahre alt. Sie werden von Uschi Kotz regelmäßig gepflegt, eingefettet und nach jeder Fahrt sauber gemacht.

„Kutschreif“ ist ein Pferd übrigens mit circa drei Jahren – wenn es entsprechend darauf vorbereitet wurde. Wie beim Reiten wird es langsam an seine Aufgabe herangeführt. Das Pferd muss lernen, wie es unter dem Sattel und vor der Kutsche laufen muss, um die eigene Körperkraft optimal einzusetzen. Takt und die korrekte Anlehnung beim Ziehen sind elementar. Die Pferdegespanne müssen lernen, mit dem Kutscher zusammen zu arbeiten, und an den Straßenverkehr gewöhnt werden.

Süddeutsche Kaltblüter sind mit ihrer kräftigen Statur, ihrem ruhigen Gemüt und ihrem Arbeitswillen ebenso wie Friesen oder Freiberger prädestiniert für das Kutschfahren. „Faxen machen sie  bis sie ungefähr neun Jahre alt sind. Deshalb ist es wichtig, ein jüngeres Pferd immer mit einem alten Hasen zusammen laufen zu lassen“, meint Stefan Kotz. „Erst mit 11, 12 Jahren sind es dann „richtige“ Rösser.“

Wichtig ist auch, den Pferden immer wieder eine neue Aufgabe zu geben. „Alltagstrott ist nichts für die Tiere. Obwohl sie oft eine Lieblingsseite haben, lassen wir sie auch gerne mal anders als gewohnt laufen, denn das ist für sie Kopfarbeit. Außerdem brauchen sie ihre Ruhezeiten im Stall und auf der Weide, dann sind sie ausgeglichen“, ergänzt Uschi Kotz. Auch besondere Situationen wie Fahrten im Winter im Dunkeln, bei Fackelschein oder im Schnee müssen immer wieder neu trainiert werden. Um die Sicherheit beim Fahren zu gewährleisten, steht hinter dem Kutschfahren also viel mehr, als die Fahrgäste auf den ersten Blick sehen können.

© Wittelsbacher Ausgleichsfonds München; Foto: Schloss Hohenschwangau, Barbara Schumann

Auch privat ist Familie Kotz mit ihren Pferden bei zahlreichen Veranstaltungen wie beim Colomansritt oder der Pferdesegung in der Wieskirche in Steingaden dabei. Beim Festumzug zur Eröffnung des Oktoberfestes sind auch schon mitgefahren und die beiden Brüder Tobias und Stefan waren mit Pferd Biene beim neu aus der Taufe gehobenen Martinsritt in Hohenschwangau im November im Einsatz. „Für uns ist jede Veranstaltung anders. Wir sind schon ein bisschen angespannt, bis alles hergerichtet ist. Aufregt dürfen wir aber nicht sein, das überträgt sich auf die Pferde. Wir sind zusammen mit unseren Tieren ein eingespieltes Team. Wir kennen sie in- und auswendig und umgekehrt genauso. Wir sind dann glücklich, wenn die Pferde ganz ruhig gelaufen sind.“

„Die Stimmungen in der Landschaft, die Menschen, die Tiere – für uns ist kein Tag wie der andere“, meint Uschi Kotz. Auch an den Königsschlössern neigt sich ein Traumwintertag wie aus dem Bilderbuch zum Ende. Kutscher und Pferde dürfen bald nach Hause. Viel Zeit zum Erholen haben die Kutscher aber nicht: Tiere füttern, Stall ausmisten und alles für den nächsten Tag herrichten, damit die Besucher wieder eine romantische Kutschfahrt zum Schoss genießen können.